Warum Frauen medizinisch schlechter behandelt werden
Das reicht aus – nicht nur für hohe und tiefe Stimmen, Brüste, Penisse und gebärfreudige Becken. Sondern für weitreichende unsichtbare Unterschiede. Auch in der Gesundheit.
Das führt dazu, dass bei manchen Krankheiten mehr Frauen betroffen sind, bei anderen mehr Männer.
Allerdings läuft diese Gewichtung nicht immer ganz fair ab. Zum Beispiel bei Herzerkrankungen.
Fakt ist: Deutlich mehr Männer leiden an Herzerkrankungen.
Fakt ist aber auch: Deutlich mehr Frauen sterben daran.
Fakt ist: Deutlich mehr Männer leiden an Herzerkrankungen.
Fakt ist aber auch: Deutlich mehr Frauen sterben daran.
Auch bei Schlaganfällen haben Frauen immer noch die schlechteren Karten.
Die klassischen Symptome bei einem Schlaganfall sind weitreichend bekannt:
Diese zusätzlichen Symptome hier haben aber nicht so viele Menschen auf dem Schirm:
Es sind Symptome, die insbesondere bei Frauen auftreten. Gehäuft können sie auf einen Schlaganfall hindeuten, was immer noch zu selten erkannt wird.
Am schlechtesten ist allerdings, wenn gewisse Krankheiten für Teile der Gesellschaft und sogar der Medizinwelt unbekanntes Territorium sind.
Wenn’s gut kommt, haben Sie vielleicht schon mal von Endometriose gehört. Aber was war das jetzt gleich? Bei Endometriose wächst Gebärmutterschleimhaut außerhalb der Gebärmutter, was für die betroffenen Frauen sehr schmerzhaft sein kann. In Deutschland erkranken daran jedes Jahr 40.000 Frauen. Trotzdem ist die Krankheit noch zu wenig erforscht. Weil sie keine Männer betrifft.
Warum ist das so?
Historisch betrachtet war die Sachlage in der Medizin lange Zeit so: Männerkörper sind die richtigen Körper, und Frauenkörper sind halt ein bisschen anders.
Anders ist es auch nicht zu erklären, dass Aristoteles Gebärmutter und Eileiter für einen nach innen gestülpten Penis samt Hoden hielt. (Hä?)
Selbst noch im 19. Jahrhundert wurden Frauen von der männerdominierten medizinischen Zunft als minderwertig klassifiziert.
Ihr Gehirn sei kleiner, hieß es damals.
Das ist natürlich Käse. Aber es gibt tatsächlich relevante medizinische Unterschiede, die insbesondere durch einen anderen Hormonspiegel beeinflusst werden. Bei Studien waren Frauen auch im 20. Jahrhundert noch unterrepräsentiert. Das hat mehrere Gründe:
Erstens: Hormone
Der komplizierte und stark schwankende Hormonzyklus macht Frauen zu komplexeren Probandinnen als Männer.
Das ist auch bei Tierversuchen so. Männliche Mäuse sind einfacher zu handhaben, an ihnen wird deshalb viel häufiger im Labor geforscht als an weiblichen.
Zweitens: Nummer sicher
Der Contergan-Skandal in den 1960ern. Die Fehlbildungen an Babys, weil ihre schwangeren Mütter ein Beruhigungsmittel genommen hatten, führten dazu, dass Frauen grundsätzlich von Medikamententests ausgeschlossen wurden.
Daraus folgten teilweise völlig absurde Studien: 1986 wollte eine Untersuchung in den USA herausfinden, welchen Einfluss Übergewicht auf Brust- und Gebärmutterkrebs hat.
Es gab nur männliche Probanden.
Ach, und kennen Sie Acetylsalicylsäure? Vielleicht nicht unter diesem Namen, aber als Aspirin.
Das Zeug wird auch vorbeugend gegen Herzinfarkt verschrieben. Erst 2005 hat man festgestellt, dass es in diesem Zusammenhang nur bei Männern wirksam ist. Vorher wurde das schlicht nicht untersucht.
Und, Sie ahnen es, diese Geschlechterdatenlücke gibt’s nicht nur in der Medizin, sondern sie betrifft viele Lebensbereiche – von der Toilettenplanung bis zum Städtebau.
Die Gender Data Gap ist zwar kein neues Problem, aber immer noch keineswegs gelöst. Schauen wir uns mal an, wie erst vor Kurzem tausende Covid-19-Studien die Sache mit dem kleinen Unterschied angegangen sind:
Und wie kommen wir aus der Misere raus?
Lösungen sind in Sicht. Zaghaft zumindest.
In Deutschland müssen Arzneimittelhersteller die Geschlechterverteilung bei der Durchführung von Studien gut begründen, immerhin.
Eine EU-Verordnung sieht zudem vor, dass die Studienteilnehmenden diejenige Bevölkerungsgruppe repräsentieren müssen, die das Medikament voraussichtlich einnehmen wird. Diese Verordnung stammt aus dem Jahr 2014.
In Kraft getreten ist sie allerdings erst im Januar 2022.
Und eine Garantie, dass relevante Wirkungen einer Arznei auf unterschiedliche Untergruppen und Geschlechter immer gefunden werden, ist das freilich nicht – vor allem auf Grund zu kleiner Stichproben.
In Bielefeld gibt es die erste Professur dieser Art in Deutschland. Sabine Oertelt-Prigione hat sie inne.
Sabine Oertelt-Prigione
»Die geschlechtersensible Medizin befasst sich mit potenziellen Unterschieden zwischen den Geschlechtern […], wenn wir sie doch einschließen in die Studien, um herauszufinden, inwiefern sich eben Unterschiede in der Entstehung von Erkrankungen herauskristallisieren und inwiefern wir die Diagnose und die Therapie verbessern können […].«
Das könnte klappen, denn das Thema ist auf institutioneller Ebene so ganz langsam angekommen. Die Deutsche Gesellschaft für geschlechterspezifische Medizin in Potsdam nimmt die Rolle eines fördernden Dachverbands ein. Und an der Berliner Charité forscht und bildet die spezielle Einrichtung Geschlechterforschung in der Medizin. „Geschlechterforschung“, weil es nicht nur um Frauen geht.
Redaktion: Peggy Grunwald, Matthias Vorndran
Grafik und Text: Robert Rönsch, Florian Zinner
Technische Unterstüzung: Henne/Ordnung
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